Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch

 

Parallel zum öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch wurde von den Sozialgerichten der „sozialrechtliche Herstellungsanspruch“ entwickelt. Hierbei handelt es sich um ein eigenständiges, vom öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch zu unterscheidendes Haftungsinstitut für den Bereich des Sozialrechts (insbesondere des Rentenversicherungsrechts und der Kranken- und Arbeitslosenversicherung).

 

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch dient dem Ausgleich von Schäden, die aus der Verletzung behördlicher Auskunfts-, Beratungs- und Betreuungspflichten im Sozialrechtsverhältnis resultieren. Durch ihn sollen die Schäden ausgeglichen werden, die aufgrund der Kompliziertheit und Undurchschaubarkeit dieses Teils der Rechtsordnung entstehen (Ossenbühl/Cornils (Staatshaftungsrecht), S. 393.). Im Unterschied zum Amtshaftungsanspruch ist der sozialrechtliche Herstellungsanspruch nicht auf die Zahlung einer Geldentschädigung gerichtet, sondern auf die Herstellung des Rechtszustands, der bei ordnungsgemäßem Handeln der Verwaltung bestehen würde (BGHZ 103, 242, 247).

Die rechtliche Grundlage des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ist umstritten. Teilweise wird der Anspruch auf die Verletzung einer Nebenpflicht aus der zwischen dem Versicherten und dem Versicherungsträger bestehenden öffentlich-rechtlichen Sonderverbindung, teilweise auf den Grundsatz von Treu und Glauben gestützt (Vgl. BSGE 34, 124, 127).



Übersicht

I. Anspruchsvoraussetzungen

II. Inhalt und Umfang des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs

III. Verhältnis zur Amtshaftung

 

 

I. Anspruchsvoraussetzungen

 

1. Sozialrechtliche Sonderbeziehung

 Die Sonderbeziehung ergibt sich regelmäßig aus dem sozialrechtlichen Versicherungsverhältnis (vgl. Ossenbühl/Cornils (Staatshaftungsrecht), S. 393.). Der Anwendungsbereich des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs beschränkt sich auf das Sozialrecht; eine Anwendung auf den Bereich des gesamten öffentlichen Rechts lehnt die Rechtsprechung ab (vgl. BVerwGE 79, 192, 194; BayVGH BayVBl. 1995, 118; OVG Koblenz, NVwZ 1985, 509, 510). Selbst für das dem Sozialrecht zugehörige Sozialhilferecht und das Wohngeldrecht haben die Verwaltungsgerichte die Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs abgelehnt (BVerwG NJW 1997, 2966; OVG Koblenz NVwZ 1985, 509, 510; Ossenbühl/Cornils (Staatshaftungsrecht), S.393; Maurer, § 30 Rdn. 25.).

 

2. Pflichtwidriges Verwaltungshandeln

Die Pflichtverletzung der Behörde liegt regelmäßig in der Erteilung unrichtiger Auskünfte oder im Unterlassen einer notwendigen Aufklärung (BSGE 87, 280, 285 f.). Nach der Rechtsprechung ist ein Verschulden auf Seiten des Hoheitsträgers keine Anspruchsvoraussetzung (BSGE 49, 76, 77 f.; BVerwG NJW 1997, 2966, 2967.). Andererseits führt aber ein grobes Mitverschulden des Bürgers zum Anspruchsausschluss (BSGE 34, 124, 128 ff.).

 

3. Nachteilige Dispositionen des Betroffenen

Die fehlerhafte Betreuung durch die Behörde muss zu einer Disposition des Bürgers führen, durch die dieser einen Nachteil erleidet. Die Disposition des Bürgers kann z. B. darin liegen, dass er notwendige Anträge nicht stellt, wichtige Fristen nicht einhält oder Wahlrechte nicht ausübt. Die Pflichtverletzung muss für diese Dispositionen und den daraus entstehenden Schaden kausal sein. Der Nachteil, den der Bürger aufgrund solcher Dispositionen erleidet, kann im Verlust von Ansprüchen oder in der Heranziehung zu höheren Beitragszahlungen liegen.

 

 

II. Inhalt und Umfang des sozialrechtlichen Herstellungs­anspruchs

 

Der Geschädigte ist grundsätzlich so zu stellen, wie er stünde, wenn die Behörde pflichtgemäß gehandelt hätte. Der Anspruch ist auf Vornahme einer Rechtshandlung zur Herstellung desjenigen Zustandes gerichtet, der bestehen würde, wenn der Sozialleistungsträger die ihm aus dem Sozialleistungsverhältnis erwachsenen Pflichten ordnungsgemäß erfüllt hätte (BSGE 65, 21, 26.). Dagegen ermöglicht der Herstellungsanspruch keine „verkappte Verurteilung zu Schadensersatz in Geld“ (BSGE 55, 261, 263.). Der Herstellungsanspruch setzt daher voraus, dass der Sozialleistungsträger zur Gewährung der Naturalrestitution durch eine zulässige Amtshandlung rechtlich in der Lage ist (BVerwG NJW 1997, 2966, 2967; Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 04. August 2016 – L 7 SO 1394/16 –, juris.). Für die Anwendung des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs verbleibt also kein Raum, wenn ein eingetretener Nachteil nicht durch eine zulässige Amtshandlung beseitigt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 30. März 1995 - 7 RAr 22/94, BSGE 76, 84 ff.). Begebenheiten tatsächlicher Art lassen sich daher in der Regel nicht durch einen Herstellungsanspruch ersetzen (LSG Sachsen, Urteil vom 12.07.2018 - 3 AL 210/16).

 

Über das Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs kann keinesfalls die Herstellung eines rechtswidrigen Zustands erreicht werden (Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 26. Januar 2016 – L 15 VS 11/15 –, juris.). Es besteht auch kein Anspruch auf Verzinsung einer rückwirkend im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs gewährte Rente (Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 22. Januar 2016 – L 4 R 1412/15 –, juris.).

 

 

III. Verhältnis zur Amtshaftung

 

Amtshaftungsanspruch und sozialrechtlicher Herstellungsanspruch können nebeneinander bestehen. Dies ergibt sich schon aus der Rechtsnatur der beiden Ansprüche: Während der sozialrechtliche Herstellungsanspruch in seiner Zielsetzung dem Primärrechtsschutz eng verwandt ist, (BGHZ 103, 242, 247.) handelt es sich bei der Amtshaftung um eine Sekundärhaftung. Beide Ansprüche sind auf unterschiedliche Rechtsfolgen gerichtet: Während der sozialrechtliche Herstellungsanspruch auf Herstellung eines Zustands gerichtet ist, der bei ordnungsgemäßem Verwaltungshandeln bestehen würde, richtet sich der Amtshaftungsanspruch auf Zahlung von Schadensersatz in Geld. Deswegen werden sozialrechtlicher Herstellungsanspruch und Amtshaftungsanspruch in aller Regel auch nicht parallel geltend gemacht werden.

 

Ob der sozialrechtliche Herstellungsanspruch einen vorrangigen Rechtsbehelf im Sinne des § 839 Abs. 3 darstellt, ist – soweit ersichtlich – ungeklärt. Man wird dies jedoch mit der gleichen Erwägung wie beim allgemeinen Folgenbeseitigungsanspruch ablehnen müssen.

 

Nach der Rechtsprechung des BGH schließt die rechtskräftige Ablehnung eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs die spätere Geltendmachung eines Amtshaftungsanspruchs nicht aus (BGHZ 103, 242, 245.).