Europarecht

Dass das europäische Recht immer weiter und immer tiefer in die verschiedensten nationalen Rechtsgebiete vordringt, ist bekannt. Ebenso wenig überraschend ist, dass es auch vor den Toren des Amtshaftungsrechts nicht Halt macht und eine weitere Ausdifferenzierung dieses ohnehin schon komplexen Rechtsgebietes erzwingt. Die dadurch bewirkten materiell-rechtlichen und prozessualen Modifikationen des deutschen Rechts sind mittlerweile derart vielgestaltig, dass die Bezeichnung „Europäischer Amtshaftungsprozess“ bei Haftungsprozessen wegen der Verletzung europäischen Unionsrechts ohne Weiteres adäquat ist. Geht es also nicht allein um die Verletzung innerstaatlichen Rechts durch die nationalen Behörden, sondern um einen qualifizierten Verstoß gegen individualschützende Normen des Unionsrechts durch nationale Behörden und Organe, finden die maßgeblich vom EuGH entwickelten Grundsätze über die unionsrechtliche Staatshaftung der Mitgliedstaaten Anwendung. Eine Heranziehung der für rein innerstaatliche Rechtsverletzungen entwickelten Maßstäbe wäre schlicht falsch.

 

Durch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union erhält diese zunehmende Befugnisse zu Eingriffen in die Rechtssphäre der Unionsbürger. Verstoßen die Unionsorgane oder-behörden gegen Unionsrecht, so kann der Geschädigte die Union auf Schadensersatz in Anspruch nehmen. Wichtigste Anspruchsgrundlage ist diesbezüglich Art. 340 Abs. 2 AEUV, der die „außer-vertragliche Haftung“ (oder „Amtshaftung“) der Europäischen Union regelt. Zur Geltendmachung dieses Amtshaftungsanspruchs ist eine Klage vor den europäischen Gerichten erforderlich, die eigenen, vom deutschen Prozessrecht teilweise deutlich abweichenden Regeln folgt. Auch insofern kann von einem eigenständigen „Europäischen Amtshaftungsprozess“ gesprochen werden.

 

Durch den am 01.12.2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon wurde die Europäische Union auf eine neue rechtliche Grundlage gestellt. Der bis dahin geltende Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft wurde durch den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) abgelöst. Der neue Vertrag über die Europäische Union (EUV) ist an die Stelle des bisherigen Vertrags über die Europäische Union – der parallel zum EG-Vertrag galt – getreten. Beide Verträge, also der EUV und der AEUV, bilden als rechtlich gleichrangige Verträge die Grundlage der Europäischen Union, Art. 1 Abs. 3 Satz 2 EUV. Die Europäische Union ist dabei als Rechtsnachfolgerin an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft getreten, Art. 1 Abs. 3 Satz 3 EUV. Konsequenterweise wird in der Folge nicht mehr von der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung, sondern von der unionsrechtlichen Staatshaftung gesprochen, weil die Union an die Stelle der Gemeinschaft getreten ist.

 

Neben der Haftung der Europäischen Union nach Art. 340 Abs. 2 AEUV und der Haftung der Mitgliedstaaten für die Verletzung von Unionsrecht steht als dritte Säule des europäischen öffentlichen Haftungsrechts die Haftung der Vertragsstaaten nach dem Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vom 4.11.1950.